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Samstag, 11. Juni 2022

Wie uns Armut betroffen machen sollte (#ichbinarmutsbetroffen)

 

Als ich (zu) jung war, gehörte ich zu den Menschen, die über obdachlose Menschen hinweggesehen haben. Nicht dass ich diese Personen diffamiert hätte, ich hielt Distanz und versuchte die Armut zu ignorieren. Auch wenn ich meinen familiären Background nicht als besonders wohlhabend bezeichnen würde, wuchs ich in einem Umfeld auf, das von der Meinung geprägt war, dass es immer Arbeit gäbe, für Menschen die nur wollen.

Der Sozialstaat der 1980ger Jahre schien perfekt geregelt, Armut & Wohnungslosigkeit wurden quasi als selbst gewähltes Schicksal empfunden.

Ich begann eine Ausbildung im Bereich der Sozialversicherung, erlebte dann anhand eines Krankheitsfalls in der Familie, dass die staatlichen Institutionen auf dem Papier gut funktionieren. In der Praxis nicht. Unser Rechtsstreit um Transferleistungen ging zwei Jahre.

Trotz des positiven Ausgangs aus monetärer Sicht, diese Jahre, mit diversen Erfahrungen und Ereignissen im weiteren Umfeld, haben mich geprägt.

Auch in den 1990ger Jahren waren die Institutionen des Sozialstaates nicht dafür da, bei einer Krise im Anfangsstadium Hilfe zu leisten, und eine soziale Notlage am Anfang abzufedern. Ein Mensch wurde zum Verwaltungsakt, und über Monate zerrieben.

Ab da habe ich mir die Frage gestellt, welche Geschichten obdachlose Menschen zu erzählen hätten, um zu erklären wie sie in ihre Situation gekommen waren. Und das es diese Gründe sein könnten, denen ich aus dem Weg gehen wollte.

Es gab im Laufe der Jahre Berichte im Fernsehen, meist spät ausgestrahlt, die über die Löcher in unserem sozialen Netz berichteten..
Ab und zu schaffte es ein Buch zu diesem Thema in das Feuilleton. Dort wurde das Buch von Menschen rezensiert, die von Armut und Krankheit nicht betroffen waren.

Es sind große Schicksalsschläge, oder kleine Fehlentscheidungen, die uns im Leben stolpern lassen. Ja, Menschen sind verschieden. Viele strengen sich an, und kämpfen gegen die Umstände an. Niemanden steht es jedoch zu, zu beurteilen, wie lange der Kraftvorrat für diese Anstrengungen zu reichen hat. Kritik an Menschen, die irgendwann aufgeben, verbietet sich für Außenstehende.

Tief im Innersten wissen das die allermeisten von uns, daher gehen wir auf Distanz, um zu verdrängen, dass es auch bei uns schneller finanziell bergab gehen könnte, als uns lieb ist.

Als der Boulevard nur in Form der BILD vertreten war, wurden diese Menschen als Sozialhilfebetrüger bezeichnet. Hinzu kam das Bild der „sozial schwachen“ Menschen, welches von den privaten Fernsehsendern den „strebsamen“ Mitmenschen zur Primetime präsentiert wurde.

Jetzt können ökonomisch Schwache zusätzlich in den sozialen Medien verunglimpft werden.

Umso wichtiger ist es, dass diese Menschen ihre Erfahrungen unter dem Hashtag #ichbinarmutsbetroffen auf Twitter schildern konnten, bzw. sie sich getraut haben in die Öffentlichkeit zu treten. Die daraus resultierende Petition von @sorgeweniger ist ebenfalls unterstützenswert(Link).

Der sehenswerte Beitrag von Sarah Bosetti (Link) bringt es auf den Punkt. Wir haben zu lange weggesehen, und dabei Menschen übersehen. Es wird Zeit, dass der Begriff der sozial Schwachen aus dem Sprachgebrauch verschwindet. Nur die immensen staatlichen Transferleistungen der letzten zwei Jahre habe verhindert, dass zehntausende Menschen ihre Arbeit nicht verloren haben.

Die Aktion #ichbinarmutsbetroffen ist ein wichtiges Korrektiv, in einer Zeit, in der Medien unreflektiert darüber berichten, dass das Vermögen „der Deutschen“ immer weiter wächst.

Meine Bitte, die oben erwähnte Aktion zu unterstützen hat nichts mit Neid zu tun. Ich gönne jedem Menschen eine gerechte Entlohnung für seine Berufung und seine Leistung.
Aktionärsdividende oder Erbe sind keine Leistung.

Sobald Krieg und Pandemie die deutsche Gesellschaft nicht mehr beschäftigen, wird es darum gehen die Transferleistungen aus den Krisenjahren zu refinanzieren. Ohne Debatte über soziale Gerechtigkeit kann kein Fortschritt in dieser Frage erzielt werden. Daher wäre es wünschenswert, wenn wir bereits jetzt Menschen zuhören würden, die von Armut betroffen sind.



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